Berlinerisch, familiär, günstig: Wie die Berliner Eckkneipe kämpfen muss

von Regine Sylvester, erschienen in der Berliner Zeitung am 15.7.2022 

Bier, Bouletten und Stullen: Altberliner Kneipen wie das Anna Koschke in Mitte haben eine lange Geschichte. Sie müssen kämpfen – und haben doch treue Fans.

 

Manchmal ist es kurz still, eine zufällige Übereinkunft. Eben haben die Gäste draußen an den Tischen geprostet, gelacht und geredet, jetzt atmen sie aus, dehnen mal den Rücken, trinken, nicken ins Nichts und sehen zu, wie die Sonne untergeht. Gleich sprechen sie weiter und rufen die Bedienung für neue Bestellungen. Sie schieben ihre Stühle zu anderen Tischen, da sitzen Leute, die sie auch kennen.

Mila, die Wirtin, will ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen, der ist privat. Sie weiß die Vornamen der Stammgäste, umarmt sie und merkt sich neue Besucher für eine Umarmung beim nächsten Mal. Ein Pärchen schlendert näher heran. „Wir sind schon bei Anna. Beeilt euch mal“, sagt die Frau ins Handy. Bei Anna. Das reicht.

Immer wieder steigt der Lärmpegel. Rettungsautos und Streifenwagen rasen mit Blaulicht und Sirene zur Einfahrt des katholischen St.-Hedwig-Krankenhauses. Die Glocken der evangelischen Sophienkirche erinnern alle 15 Minuten daran, was die Stunde schlägt. Über den Dächern glänzt die goldene Kuppel der jüdischen Synagoge. Alles gehört hierher.

Alles sieht und hört man vor der Tür von Anna Koschke, einer Kneipe in der Krausnickstraße, Berlin-Mitte.

Krausnickstraße: Wie ganz in der Nähe Berlin entstand

Ganz in der Nähe entstand einmal die Stadt. Sie entwickelt sich aus zwei Handelsplätzen zu beiden Seiten der Spree: aus der Siedlung Cölln­ – auf der Spreeinsel gelegen – und aus der Siedlung Berlin am nördlichen Ufer. 1237 wird Cölln zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Das ist wohl auch das Gründungsdatum von Berlin, genau weiß man es nicht: Berlin wird erst 1244 urkundlich erwähnt. 1432 verbinden sich beide Orte zur Doppelstadt Cölln-Berlin. 1709 verfügt König Friedrich I. per Edikt die Vereinigung von Berlin und Cölln samt Vorstädten und der neu gegründeten Städte Friedrichswerder, Dorotheenstadt und Friedrichstadt zur preußischen Haupt- und Residenzstadt Berlin.

Die Zeiten haben Spuren, Kratzer und Erinnerungen hinterlassen. Häuser, Parks, Friedhöfe, Denkmale, Pflastersteine, Kirchen, Straßennamen erzählen Geschichten.

So wurde durch Cabinettsorder eine neu angelegte Straße am 18. Oktober 1861 – dem Krönungstag König Wilhelms II. – nach dem damaligen Berliner Oberbürgermeister benannt, nach Heinrich Wilhelm Krausnick.

Ein Torfgräbereibesitzer aus Fehrbellin hatte Land in Berlin gekauft und ließ 1861 die Krausnickstraße anlegen. Sie verband die Oranienburger Straße mit der Großen Hamburger und musste nach einem Drittel einen Knick nach rechts machen, sonst hätte sie über das Gelände vom St.-Hedwig-Krankenhaus geführt. Das stand da schon seit 1846.

Mehrere Bauherren finanzierten die herrschaftlichen Häuser für Bedienstete des Hofes vom nahen Schloss Monbijou und andere wohlhabende Bürger. Das sieht man den Fassaden – wenn sie keine Kriegsruinen waren und später Neubauten – heute noch an: Stuck, Gesimse, Balkone, Erker, hohe Fenster in großen Etagenabständen, Türen wie Portale.

Viele von Anna Koschkes Gästen sind in dieser Straße zu Hause. Kneipenbesucher bevorzugen kurze Wege.

Außer sonntags wird um 17 Uhr aufgemacht, da ist es meistens noch hell. In der Woche ist um ein Uhr Schluss, am Wochenende um drei Uhr. Da ist der Himmel über Berlin dunkel. Manchmal wird es auch vier Uhr, weil zum Beispiel die Techniker vom Friedrichstadtpalast erst spät zum Vergnügen kommen konnten.

Anna Koschke: Möbel mit Patina und ein altes Radio

Im Winter bleiben alle Gäste drinnen im Keller – sie essen, trinken, rauchen, spielen Karten oder Schach. Stammgäste sitzen auf Stammplätzen. Die Möbel haben Patina, an den Wänden hängen alte Fotos und Bilder. Das Radio sieht aus, als wäre es gleich nach der Erfindung des ersten Radios nachgebaut worden. An der Tür ein Schild: Die Gäste müssen über 18 sein, hier darf geraucht werden. Alles wie früher.

Frühling, Sommer, Herbst stehen Tische und Stühle auch auf dem Bürgersteig, eine öffentliche Einladung ohne Hemmschwelle. Stärker als im Keller teilt sich das Publikum in Stammgäste und zufällige Passanten.

Die Karte im Anna Koschke: Bouletten, Kassler, Harzer Brettl, Saurer Teller

Touristen lesen die aktuellen Angebote auf einer Tafel neben der Tür: Bouletten. Kassler. Käseplatte. Wurstplatte. Harzer Brettl. Saurer Teller. Erbsensuppe. Kartoffelsuppe. Knoblauchfladenbrot. Verschiedene Stullen. Alles zwischen knapp zwölf und knapp drei Euro. Berlinerisch und nicht so teuer. Interessen erwachen.

Anfang des letzten Jahrhunderts kam die junge Anna Koschke aus Pommern nach Berlin. Sie suchte das Glück und einen Gemahl, fand Arbeit im Badehaus und eine Wohnung in der Krausnickstraße. Monika Puhlemann, Annas Enkelin, war vom Nachlass der Großmutter begeistert. Mit deren Mobiliar eröffnete sie 1991 in der Krausnickstraße 11, einem ehemaligen Kohlenkeller, ein Café und Restaurant. Im Namen der Oma.

Im Hinterhof spielte ein Theater: Evergreens, Revuen und Wortprogramme. Der nächste Besitzer, Lutz Riediger, führte von 2003 bis 2013 die Tradition weiter. Das Theater bekam bei ihm mehr Glanz und Vorstellungen. Aber dann kamen Proteste von Mietern, denen der Hof zu laut wurde. Ein damaliger Nachbar war der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre, eigentlich ein cooler und lebenserfahrener Mann. Man kann seinen Belästigungsdruck in dem Buch „Panikherz“ nachlesen.

Jetzt werden Kompromisse gesucht, um das Theater wiederzubeleben: Nur acht Mal im Jahr bis 22 Uhr, ohne Gastronomie im Hof, das ist das Angebot an die Anwohner.

Der Schauspieler Walter Plathe trinkt immer mal wieder ein Bier vor der Tür – er will auch auftreten, vielleicht wieder mit dem Zille-Programm „Hurengespräche“. Allein durch seine kräftige Erscheinung könnte er ein bisschen Druck machen.

Das Wort „knipen“ bedeutet im Mittelhochdeutschen so viel wie „eng zusammendrücken“ oder „kneifen“. Man kommt sich nahe. Schon lange ist Bier dabei.

Als die Menschen vor 10.000 Jahren das Nomadenleben beendeten und begangen, den Boden zu beackern, entdeckten sie, dass Getreidebrei gärt, wenn man ihn stehen lässt. Vermutlich entstand das erste Ur-Bier, als ein Stück Brot feucht wurde und zu gären begann. Die Sumerer siedelten vor 6000 Jahren im südlichen Mesopotamien, heute der Irak, und gelten als Urväter der Brauerei. Sie erfanden auch die Keilschrift und verbrachten viel Zeit damit, Wissenswertes in Stein zu meißeln oder in Ton zu kerben. „Nur deshalb wissen wir so sicher, dass sie Bier brauten und wie sie es machten.“ Das steht in dem lesenswerten Buch: „Bier: Eine Geschichte von der Steinzeit bis heute“, 2016, von Gunther Hirschfelder.

In Ägypten soll es schon 3000 v. Chr. Kneipen gegeben haben. Bei den Römern hießen sie Tavernen, Reste lagen unter der Vulkanasche von Pompeji. Im Mittelalter war Bier Volksgetränk, Mönche verfeinerten die Braukunst. Wer zu Hause braute, hatte bald auch Kunden. Ab 1880 boten Biergaststätten auch Branntwein und Liköre an, zu essen gab es Bouletten, Bockwurst, Rollmops.

Kneipen waren Orte armer Leute – fast immer Männer, die um ihre Existenz fürchteten, und Einsame, Kleinkriminelle, Prostituierte, Zuhälter. Viele versuchten, sich das Leben schönzusaufen. Heinrich Zille hat sie gezeichnet.

 

Aber auch Sozialisten und Sozialdemokraten nutzten die Umgebung für Treffpunkte. Sicherheitsbehörden des Kaiserreichs schickten als Arbeiter verkleidete Spitzel, die die Gespräche protokollierten.

Manche Kneipen profilierten sich politisch oder fürsorglich.

In Bremen gab es die Kneipe Zur Guten Hilfe. Werbung: „Fritz Eberts Restaurations- und Bierhalle, Braut-, Ecke Westerstraße. Meinen oberen Saal halte ich den Genossen für Versammlungen und sonstige Zusammenkünfte bestens empfohlen.“ Arbeiter erhielten kostenlose soziale und Rechtsberatung. Der Pächter, Sozialdemokrat, hieß eigentlich Friedrich Ebert und wurde 1919 als erster Reichspräsident der Nachfolger des Kaisers.

Um 1850 entstand eine neue Kneipenkultur: Der Sparverein war ein Angebot, den Umgang mit Geld zu lernen. Die Mitglieder verpflichteten sich, regelmäßig einen selbstbestimmten Mindestbeitrag in eine Kasse einzuzahlen. Später kamen Sparschränke in die Kneipen, Fächer mit Schlitzen und Nummern. Da wurde Geld reingeworfen, in bestimmten Abständen von Vertrauenspersonen gezählt und für Zinsen zur Bank gebracht.

 

Das Kneipensparen erlebt heute tatsächlich eine Renaissance, in manchen Städten, Hamburg zum Beispiel, sind die Schrankfächer ausgebucht: Die Sparer wissen, dass ihr Geld da sicher ist und nicht weniger wird. Zinsen gibt es keine, aber nach der Ausschüttung folgen Kneipenrunden. Hauptsache, es macht Spaß.

Der Schriftsteller und Regisseur Clemens Füsers schrieb ein Buch über Altberliner Kneipen: Berlin war vor 150 Jahren die Stadt mit der höchsten Kneipendichte in Europa. Sie stieg um die Jahrhundertwende noch an: Zwischen erschöpfenden Fabriken und überfüllten Mietskasernen lagen die Kneipen am Weg wie tröstende Zufluchten. Auf 150 Einwohner kam damals eine Wirtschaft, es gab 30.000 lizenzierte Lokalitäten. 2002 waren es noch 15.000.

Als Füsers’ Buch 2011 erschien, passten in sein Suchraster – Innenstadt, 100-jährig, original eingerichtet, atmosphärisch – nur noch zwei Dutzend Kneipen. Ihnen gehört das Buch.

Das Ausgehverhalten hatte sich verändert. Kneipen kämpfen gegen Fast Food, Spätis, Trendgastronomie. „Anders als früher gehen sie nicht in jeder Stimmung in ihre Kneipe im Wohnviertel, sondern suchen sich die Lokalität aus, die zu ihrem Gefühl passt“, schrieb ein Trendforscher schon 2012. Oder die Leute bleiben einfach mehr zu Hause. Auch wegen Corona, aber nicht nur.

Wer treue Gäste will, muss irgendwie besonders sein. Bei Anna Koschke ist es das Familiäre, die Zusammengehörigkeit und Herzlichkeit. Sohn Benjamin Petras, der eigentliche Besitzer, hält sich mehr im Hintergrund, Mila ist das Energiezentrum zwischen Küche, Keller und Bürgersteig.

Als einem Hausmeister der E-Roller gestohlen wird, legten sie mit Gästen zusammen und kauften ihm einen neuen. Man kennt sich.

 

Draußen stehen die Tische dicht zusammen, Gesprächsfetzen fliegen durch die Luft. „Alba hat’s wieder gepackt.“ – „Du willst jetzt hier bei mir wirklich ein Knoblauchbrot essen?“ –  „Ich brauche niemanden, der mir sagt, es ist gut, wenn wir wieder in der Kreisliga spielen.“ – „Seit ich Managerin bin, sehe ich das anders.“

Zwei ältere Männer schweigen am frühen Abend mit dem Gesicht zu Straße. Eine aufregende Frau läuft mit kurzem Rock und klackernden Absätzen vorbei. Der eine Mann sagt zum anderen: „Da guckst du, was?“ Der antwortet: „Ja, ich gucke. Ich weiß aber nicht mehr, warum.“

Drinnen hat jemand zu früh zu viel getrunken und kann nicht mehr geradeaus gehen. Ein Gast stützt ihn und bringt ihn nach Hause. Man kennt sich.

 

Hier finden Sie uns 

Anna Koschke

Krausnickstraße 11

10115 Berlin

Bei Fragen und Reservierungen

030/ 283 55 38

 

Nutzen Sie auch gerne unser Kontaktformular

Unsere Öffnungszeiten

Di.-Do. :

17:00  - 01:00 

Fr., Sa. :

17:00  - 03:00 

So-Mo: geschlossen